Studie der Uni Wien
»Langeweile wird völlig zu Unrecht gelobt«
Yoga, Meditation, Kirchenbesuch: In spirituellen Momenten langweilen sich Menschen erstaunlich häufig, hat der Bildungspsychologe Thomas Götz herausgefunden. Und er warnt: Langeweile ist nicht nur unangenehm, sie ist schädlich.
Ein Interview von Kerstin Kullmann

Übung beim Yoga
Foto: Wavebreak / DEEPOL / PlainpictureSPIEGEL: Kommt es häufig vor, dass sich Menschen beim Yoga oder in der Kirche langweilen?
Götz: Viel häufiger, als wir es erwartet haben. Wir haben für unsere Studie fünf Situationen untersucht, in denen Menschen sich mit einer spirituellen Praxis auseinandersetzen: Yoga, Meditation, das Hören von Predigten, Schweigeexerzitien und Pilgerreisen. Wir haben mehr als 1200 Leute befragt: Auf einer Skala von 1 bis 5 – wie stark haben Sie sich gelangweilt? Im Mittel maßen wir einen Wert von 1,9.
Thomas Götz, 56, ist Professor für Bildungspsychologie an der Universität Wien. In seiner aktuellen Studie hat er mit Kolleginnen und Kollegen das Phänomen der Langeweile in spritituellen Praktiken untersucht.
SPIEGEL: Für eine freiwillig gewählte Aktivität erscheint das recht hoch. Wobei langweilten sich die Leute am meisten? Und wann besonders wenig?
Götz: Bei den katholischen Predigten lag der Wert mit 3,6 am höchsten. Bei Pilgerreisen wurde sich am wenigsten gelangweilt. Dort gaben die Probandinnen und Probanden einen Mittelwert von 1,4 an. Vermutlich, weil das recht abwechslungsreich ist. Die Landschaft ändert sich, man kann das eigene Tempo anpassen.
SPIEGEL: Wie haben Sie die Langeweile gemessen?
Götz: Wir haben zu den fünf Praktiken jeweils zwei Studien durchgeführt. Einmal haben wir generell gefragt: Wie stark langweilen Sie sich dabei? Und dann haben wir die Leute direkt im Anschluss an die Situation befragt, uns zum Beispiel mit unseren Fragebögen nach dem Gottesdienst vor die Kirche gestellt. Oder die Probandinnen und Probanden gebeten, gleich nach einer Yoga-Sitzung den Fragebogen online auszufüllen.

Katholischer Gottesdienst in München
Foto: Manfred Bail / mauritius images
SPIEGEL: Warum langweilt man sich bei einer Tätigkeit, die man selbst gewählt hat? Es zwingt einen ja niemand.
Götz: Ich glaube nicht, dass jede oder jeder das alles immer freiwillig macht. Der Kirchgang ist für viele Menschen immer noch Routine. Und auch beim Meditieren oder beim Yoga denken einige, das gehöre zu einem bestimmten Lebensstil dazu und fühlen sich dann ein Stück weit gedrängt und verpflichtet mitzutun. Aber selbst, wenn man sich vollkommen freiwillig spirituell betätigt, können sich die allgemeingültigen, zentralen Ursachen für Langeweile einstellen: Man fühlt sich überfordert. Man fühlt sich unterfordert. Oder die Aktivität erscheint einem wenig sinnvoll.
SPIEGEL: Was genau macht Langeweile aus?
Götz: Wenn man sich langweilt, fühlt man sich schlecht. Man hat den Eindruck, dass die Zeit langsamer vergeht, man möchte aus der Situation raus und etwas anderes erleben. Auch physiologisch lässt sich das messen: Man hat zum Beispiel einen niedrigeren Blutdruck, einen verlangsamten Herzschlag. Man sieht es einem Menschen auch an, wenn er gelangweilt ist. Er sinkt zum Beispiel auf einem Stuhl in sich zusammen.
SPIEGEL: Dabei wurde in den letzten Jahren immer wieder das »Lob der Langeweile« gesungen: Das Nichtstun als Chance, zu Neuem zu finden, kreativ zu werden.
Götz: Man verwechselt die Langeweile gerne mit der Muße. Langeweile ist eindeutig ein unangenehmes Gefühl. Und sie ist schädlich. Es gibt mittlerweile viele Studien, die zeigen, dass Langeweile mit ungesundem Verhalten einhergeht. Das reicht vom Essen, das man aus Langeweile in sich hineinschiebt, bis hin zu risikoreichen Aktionen, wie sie manche Jugendliche etwa beim S-Bahn-Surfen suchen. Und nicht selten mündet es in Straftaten. In der Schule gilt: Kinder, die sich langweilen, haben schlechtere Noten. Die Langeweile wird also völlig zu Unrecht gelobt. Außerdem muss man wissen: Auch Menschen, die extrem viel arbeiten und sehr beschäftigt sind, können sich langweilen.
SPIEGEL: Wie das?
Götz: Wenn ihnen das, was sie tun, als sinnlos erscheint. Der berühmte Wiener Psychologe Viktor Frankl hat dafür das Bild des Sisyphos verwendet: Sobald der Stein, den er den Berg nach oben gerollt hat, wieder nach unten rollt, hat er Zeit, darüber nachzudenken, wie sinnlos seine Tätigkeit ist. Spätestens hier müsste ihn die Langeweile überkommen. Das ist ein etwas anderes Bild, als das von Camus überlieferte, dass man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen muss.

Yoga und Meditation - Sport und Sinnsuche
Foto: Hugh Whitaker / DEEPOL / Plainpicture
SPIEGEL: Frankls Sisyphos ist ein gelangweilter Mensch?
Götz: So wie jemand, der im Alltag durchs Arbeitsleben hastet, aber am Wochenende oder im Urlaub Zeit hat zu bemerken, wie wenig sinnerfüllt sein Tun ist. Wenn dann ein massives Gefühl der Langeweile entsteht, kann das bis ins Arbeitsleben hineinwirken. Das Erstaunliche an unserer Studie war zu sehen, dass sich die Menschen eigentlich genau deswegen der Spiritualität zuwenden: Weil sie auf der Suche nach einem Sinn im Leben sind. Dann machen sie diese Übungen, die ihnen als nicht sinnvoll erscheinen, und brechen ihre spirituelle Weiterentwicklung ab. Aus Langeweile.
SPIEGEL: Was wäre ein Gegenmittel?
Götz: Als Bildungsforscher fand ich es sehr interessant, dass die Ursachen und Wirkungen von Langeweile bei Spiritualität völlig identisch sind mit denen in der Schule. Das spirituelle Lernen ist ein ähnlicher Lernprozess. Man kann sich dabei genauso langweilen wie in der Schule, wenn der Lehrer vorne spricht und man alles entweder schon weiß, nicht mitkommt, oder nicht versteht, warum man überhaupt in der Schule sitzen sollte. Bei solchen Problemen in der Schule weiß man, was helfen kann: individuelle Gruppen bilden, in denen jeder nach seinem Tempo mitmacht und wahrgenommen, gefördert wird.
Götz: Nicht nur dort. Auch, wenn man in einer Meditationsgruppe eine halbe Stunde lang dasitzen und seine Gedanken beobachten soll. Wer das nicht schafft, wer keinen Sinn in der Tätigkeit sieht, der wird nicht mitmachen. Hier heißt die Antwort, dass man die spirituelle Praxis den individuellen Fähigkeiten anpassen sollte.
SPIEGEL: Was kann man tun?
Götz: Sich selbst nicht unter- oder überfordern. Wer noch nie meditiert hat, muss es nicht gleich mit einer Stunde versuchen. Man kann langsam beginnen und sich steigern. Und für die Anleitenden ist es wichtig, immer wieder zu vermitteln, was der Sinn der Übung sein soll. Nicht, indem sie plump vorgeben, wozu das alles gut ist, sondern im Gespräch und mithilfe von Nachfragen. So kann man herausfinden, wo die Erwartungen der einzelnen Menschen liegen. Ein Satz wie »Schließ’ die Augen und beobachte deine Gedanken« ist nur hilfreich, wenn man weiß, warum man so etwas tun sollte.
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